Sonnabend, den 18. November 1922
Man lese heute zum Überblick den ganzen Psalm 130
Dieser Psalm ist das elfte Stufen- oder Wallfahrtslied. Wer der Verfasser ist, weiß man nicht. Der Psalmdichter erhebt sich aus den Tiefen der Not zu der gewissen und herrlichen Hoffnung auf die Erlösung - wie für sich selbst, so für sein Volk Israel. Er weiß, daß die Ursache seiner Bedrängnis die Sünde ist und bekennt dieselbe rückhaltlos, nachdem er ihr für immer den Rücken gekehrt hat. Seine Seele ist mit all ihren Kräften und Erwartungen auf den Herrn gerichtet. Ihn preist er als den Gott der Gnade und der Vergebung, auf dessen friedenspendendes Wort er harrt. Der Besitz und die volle Gewißheit der Vergebung fehlt ihm noch. Doch ist er für sich und sein Volk der festen Zuversicht, daß eine herrliche Erlösung kommen wird. - Wir befinden uns hier also durchaus auf jüdischem Boden! - Wir Kinder des Neuen Testamentes kennen eine vollbrachte Erlösung. Wir haben das Wort des Heils und des Friedens vernommen und angenommen; wir besitzen in Christo Jesu das ewige Leben, das völlige Heil. Aber auch unsere Seele kennt und muß immer tiefer kennen lernen die inneren Übungen, durch welche uns dieser Psalm führt. Unsere Seele kann sich daher denselben völlig aneignen. Auch wer schon auf immerdar die Vergebung seiner Sünden durch Christi Blut gefunden hat, muß nach und nach tiefer in die Sündenerkenntnis hineinkommen und wird jedesmal, wenn er etwas zu bereuen hat, auch tiefere Sündenbetrübnis empfinden. Nur auf solchem Wege werden wir wachsen in der Gnade und Erkenntnis des Herrn und werden Ihn preisen können mit Herz und Wandel! (Vgl. Ps. 25,1-22.)
Als Luther auf der Feste Koburg vom Teufel einmal hart angefochten wurde und in großer Not war, sagte er zu seinen Freunden: „Kommt, laßt uns dem Teufel zum Trotz vierstimmig den Psalm singen: ‚Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir!‘“ Aus diesem Psalm dichtete der große Reformator ja auch sein bekanntes Lied: „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir, Herr Gott, erhörʼ mein Flehen!“