Freitag, den 11. Februar 1921
Psalm 119,176
„Ich bin umhergeirrt wie ein verlorenes Schaf!“ Wir glauben nicht, daß ein Mann, wie der Dichter des 119. Psalms, hier von Irrwegen des Eigenwillens und der Sünde redet, auf denen er sich befände; das wäre unmöglich zu vereinigen mit seiner Lauterkeit und Hingabe an seinen Gott. Nein, er ist durch viel Trübsal und Bedrängnis umhergetrieben, ermüdet und wohl auch vereinsamt; andere Schafe der göttlichen Herde, die nicht so tief geprüft werden wie er, haben sich vielleicht von ihm zurückgezogen und seine Seele hat in verborgenen Gedankengängen, in namenlosen inneren Übungen und Kämpfen umherirren müssen bis zur Ermattung. Jetzt kann und will er nicht mehr weiter umherirren - vielmehr bittet er seinen liebenden, treuen Hirten, Sich zu ihm zu begeben - Sich aufzumachen und ihn zu suchen, bis Er ihn in seiner jetzigen Lage und inneren Verfassung aufgefunden hat - Sich zu seinem augenblicklichen, gänzlich ermatteten Zustand herabzulassen. Immerhin und immerdar ist er des Herrn Knecht und hat als solcher Seiner Gebote nicht vergessen. Wer das geltend machen kann in Wahrheit, um den steht es bei allem Leiden gut. O daß viele von uns so sagen könnten. Ein Knecht, der seines Herrn Befehle nicht vergessen hat, der hat sie auch befolgt - es sei denn, er wäre ein Nichtsnutz!